
1834. Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar
Johann Joseph Schmellers Gemälde Goethe seinem Schreiber John
diktierend
steht als chronologisch letzter Versuch, die
Physiognomie und den Habitus des Dichters zu bestimmen, nicht nur im
Oeuvre dieses Künstlers allein. Zugleich ist es, neben Tischbein
und eben Kolbe das einzige Ganzfigurenbild überhaupt, ja, mehr
noch, das einzige Gemälde, in dem Goethe als Teil einer
Komposition mit einer weiteren, auf ihn bezogenen Figur auftritt.
Deutlich hat Schmeller Anleihe bei Georg Friedrich Kersting genommen,
Caspar David Friedrichs Dresdner Freund, einem Meister der
Interieurdarstellung, den man in Goethes Weimar schätzte und
sammelte.
Schmeller baut sein Gemälde so auf, als sei der Kastenraum gegen den Betrachter zu von der sogenannten vierten Wand verschlossen, die zu denken Diderot dem Schauspieler auftrug, damit sein Spiel möglichst natürlich wirke. Im Spiegel sieht man die geschlossene Tür.
Der Raum, schmucklos mit Ausnahme der wenigen Nutzholzmöbel und
der Blumen, 'bedeutenden' Details, hat sich bis heute scheinbar nicht
gewandelt. Wer sich in das Bild vertieft, entdeckt zahlreiche
Informationen, die den Augenblick fixierbar machen, um den es sich hier
handeln soll. Das einfallende Licht setzt den Zeitpunkt der Szene auf
den frühen Morgen fest, eine Tischuhr zeigt die Stunde: sieben
Uhr. Die Blumen: am Fenster, eine Königin der Nacht
und das
berühmte Bryophyllum, eine blaue Hyazinthe auf dem Repositorium
und im Blumenstrauß unter dem Spiegel Forsythien, Jasmin,
Treibflieder, Ranunkel, Pelargonie und eine Obstblüte, erlauben
die präzise Bestimmung der Handlungszeit auf das Frühjahr.
Das gerahmte Porträt rechts zeigt Großherzog Carl August in
Uniform — ein auch farblich so herausgestelltes Exponat,
daß man sofort nach der Entsprechung in der überlieferten
Ikonographie des Fürsten fahndet. Das Brustbild ist indessen nicht
mehr nachweisbar und je länger man in den Bildraum hineinsieht,
desto mehr stellt sich die Frage, welche Stücke man aus anderen
Zusammenhängen längst kennt. Bildet der Maler etwas ab, was
uns durch ihn vertraut geworden ist — oder zieht er eine Summe
von Bildlösungen, die ihrerseits das Bild konstituieren?
[...]
Für Johann Joseph Schmeller wird Rauchs Goethe-Statuette von 1828
zum Ausgangspunkt einer Komposition, die den fruchtbaren
Augenblick
im Sinne Lessings, das Innehalten beim Diktat, zum
repräsentativen Moment einer Darstellung des greisen Dichters
erklärt. Das Datum 1831 wird im zeitgenössischen Inventar der
Herzogin Anna Amalia Bibliothek, zu deren Bestand es seit altersher
gehört, in 1834 korrigiert. Schmellers Gemälde ist die
Fiktion eines Malers, der wie keiner, auch Kolbe übrigens nicht,
in seinem Bildgedächtnis auf zahlreiche Begegnungen mit Goethe
zurückgreifen konnte und zugleich mit der Kolportage aus zweiter
Hand, derjenigen Eckermanns, Riemers, Christian Schuchardts oder des
Kanzlers von Müller, versorgt war.
Aus: Wiederholte Spiegelungen, Erster Teil, S. 21-31 (Zitat S. 22 f.)
<http://www.isc.meiji.ac.jp/~mmandel/recherche/goethe_schmeller.html>
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