Auszug aus: Poetik und Historik. Christliche und jüdische Geschichtstheologie in den historischen Romanen von Leo Perutz.
Die Folge der Erzählungen des Romans Nachts unter der
steinernen Brücke
gewinnt ihre Spannung durch die sukzessive
Erhellung der Ereignisse, die zur Pest in der Judenstadt
und
ihrem schließlichen Erlöschen führen. Die hier
verwendete Erzählweise unterscheidet sich aber insofern vom
analytischen Erzählen, wie es etwa den Meister des
jüngsten Tages
bestimmt, als die kausalen Zusammenhänge
nicht explizit thematisiert werden. Die Verfolgung einer Kausalreihe
erfordert das rückwärtige Abschreiten der Zeitreihe, mithin
Linearität der Darstellung; indem Perutz die Rekonstruktion
der Handlungsabfolge dem Leser überläßt, kann er die
Chronologie der erzählten Zeit von der der Erzählzeit
weitgehend abkoppeln. Auf die Lösung des Rätsels, das er dem
Leser zum Abschluß der ersten Geschichte stellt, scheint der
Erzähler keinen Wert zu legen. Inwiefern die drei Ereignisse: das
Erlöschen der Pest, der Tod Esthers und Rudolfs Auffahren aus
seinem Traum (NA 23) miteinander verknüpft sind, erfährt der
Leser zwar schließlich in der siebten und vierzehnten Geschichte,
er erfährt es aber im Rahmen selbständiger Novellen, die sich
auf das anfangs gestellte Rätsel nicht mehr explizit
zurückbeziehen.
Die Transformation der sich ins Unendliche erstreckenden Zeitreihe in den geschlossenen Erzählzusammenhang ist nun nach Paul Ricoeur überhaupt das Verfahren mimetischer Darstellung, die außerhalb der Erzählung vorliegende empirische Sachverhalte (das Erzählte) — ob sie nun frei erfunden oder historisch verbürgt sind — in einen Sinnzusammenhang bringt, dessen
Vorstellungen des Anfangs, der Mitte und des Endes nicht der Erfahrung entnommen sind: es handelt sich nicht um Züge der tatsächlichen Handlung, sondern um Wirkungen, die aus dem Aufbau des Gedichtes hervorgehen.26
Aristoteles, auf den sich Ricoeur hier beruft, bezieht das poetische
Verfahren primär auf die Tragödie; daß es, wie Ricoeur
darlegt, auch die epischen Gattungen bestimmt, wird in Nachts unter
der steinernen Brücke
exzessiv vorgeführt. Perutz selbst
hat, allerdings nicht ganz zutreffend, das erzählerische Konzept
des Romans in einem Brief an den Verleger Zsolnay folgendermaßen
beschrieben:
Es ist, wie Sie sehen werden, ein Roman mit einem etwas eigenwilligen Aufbau. Die einzelnen Kapitel sehen aus und lesen sich wie selbständige Erzählungen, und es dauert einige Zeit, ehe man darauf kommt, daß man Kapitel einer eigentlich ziemlich straffen Romanhandlung vor sich hat, die aber nicht chronologisch erzählt wird. So ist der Beginn der Handlung erst im letzten, dem vierzehnten Kapitel zu finden, während das erste seinen Stoff aus der Mitte der Handlung holt. Und doch erscheint mir diese Anordnung nicht willkürlich, sondern als die einzig denkbare und mögliche.27
Mit der Betonung der Notwendigkeit eben dieser Anordnung macht Perutz
auf den Doppelcharakter der Novellen aufmerksam, die einerseits jeweils
ein selbstgenügsames Ganzes bilden, andererseits aber funktional
auf die Gesamthandlung ausgerichtet sind. Eine willkürliche
Änderung der Reihenfolge würde in der Tat die notwendige
Folge des Erzählens (nicht des Erzählten): Rätsel
(erstes Kapitel) und sukzessive Auflösung (besonders 7. und 14.
Kapitel) zerstören. Trotz des zyklischen Charakters ergibt sich
wiederum — wie in der Dritten Kugel
— eine Dialektik
zwischen Offenheit und Geschlossenheit, die sich mit der von Hegel
für seine Logik angegebene Struktur vergleichen läßt:
Vermöge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft [der Logik] als ein in sich geschlungener Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt; dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion-in-sich, die, indem sie in den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist.28
Der Hegelsche Terminus der Reflexion-in-sich
ist durchaus
wörtlich auf die Romanstruktur übertragbar. Die
Geschlossenheit der ersten Novelle ergibt sich beispielsweise daraus,
daß das Wissen Rabbi Löws um die Ursache der Pest mit seinem
Wissen um sich selbst zusammenfällt. Die Struktur des Wissens um
die äußeren Dinge (die Pest) deckt sich — im Sinne der
Delphischen Tempelinschrift Gnothi seauton — mit dem
Selbstbewußtsein des Protagonisten. Erkenntnis ist also
primär nicht auf linear aufeinander folgende Ursachen gerichtet,
sondern rückbezüglich, und das heißt: zyklisch
angelegt, wie das von Rabbi Löw ins Leben zurückgerufene tote
Blümchen bezeugt:
Wer jene Sünde begangen hat, sagte es,um derentwillen uns Gott zu sich rief, das weiß ich nicht und auch der Diener des Herrn weiß es nicht, der über uns gesetzt ist. Das weiß nächst Gott nur einer und der bist du.
Da kam ein Stöhnen aus der Brust des hohen Rabbi.(NA 22)
Ähnlich dem König Ödipus der Sophokleïschen
Tragödie entdeckt Rabbi Löw, nachdem er zunächst
über die unbekannte Ehebrecherin — wie Ödipus über
Kreon — den Bann ausgesprochen hatte, sich selbst als den
Unschuldig-Schuldigen: Unschuldig, sofern er die Traumliebe zwischen
Esther und Rudolf stiftete, um die Prager Juden vor der Vertreibung zu
schützen, schuldig, sofern er gerade durch diesen Rettungsversuch
den Zorn Gottes über die unschuldigen Kinder
(NA 11)
gebracht hat:
Der Retter Thebens erweist sich zugleich als sein Verderber. Er ist es nicht auch, sondern gerade als Retter: denn die Pest ist die Strafe der Götter für den Lohn, den er für seine rettende Tat empfangen hat, die blutschänderische Ehe mit Königin Jokaste.29
Die offensichtliche Vorbildfunktion des Sophokleïschen Ödipus
hat jedoch auch ihre Grenze. Mit der Selbsterkenntnis des König
Ödipus schließt sich das antike Drama zur Totalität:
Ju! Ju! das Ganze kommt genau heraus!
30
stößt Ödipus zum Abschluß seiner Analyse aus. Des
Rabbi Stöhnen enthält zwar ebenso das Ganze, weil er nun um
seine Schuld — wie Ödipus — weiß, und die
Novelle Die Pest in der Judenstadt
schließt sich damit zum
Kreis wie das antike Drama; von den Umständen, unter denen der
Rabbi schuldig wurde, erfährt der Leser aber noch nichts. So
bildet das Stöhnen als Ausdruck von Löws schmerzhafter
Selbsterkenntnis, indem es das Ganze des Romans proleptisch
umschließt, zugleich eine Leerstelle, die erst noch
ausgefüllt werden muß. In dem das Kapitel
abschließenden Parallelismus deutet sich eine erste
Differenzierung der zyklischen Strukur an. Seine heterogenen Elemente:
Erlöschen der Pest, Tod Esthers und Erwachen Rudolfs werden auf
die eine Zeitbestimmung: In dieser Nacht
(NA 23) bezogen und
bilden gewissermaßen eine 'trinitarische' Struktur, die zwar ein
Ganzes, aber eben als komplexes Rätsel
31 bildet:
In dieser Nacht erlosch die Pest in den Gassen der Judenstadt.
In dieser Nacht starb in ihrem Haus auf dem Dreibrunnenplatz die schöne Esther, die Frau des Juden Meisl.
In dieser Nacht fuhr auf seiner Burg zu Prag der Kaiser des Römischen Reiches, Rudolf II., mit einem Schrei aus seinem Traum.
Ebenso wie das erste Kapitel läuft auch der gesamte Roman in sich selbst zurück. Eine Rekonstruktion der zentralen Handlung zeigt, daß Perutz im Brief an den Verleger das Verhältnis von erzählter und Erzählzeit etwas lax darstellt. Das mittlere, siebte Kapitel enthält tatsächlich mit der Liebesnacht Rudolfs und Esthers auch die chronologische Mitte der Handlung; das erste Kapitel erzählt die faktische Beendigung der Pest durch Löws Ausgrabung des Rosmarins und den Tod Esthers, ohne den inneren Zusammenhang dieser Ereignisse aufzuklären; das — abgesehen vom Epilog — letzte Kapitel bildet mit dem Gespräch zwischen Löw und dem Maggid zwar chronologisch den Abschluß, trägt aber zur Handlung nichts mehr bei; denn die Handlung besteht hier aus bloßer Reflexion, deren Inhalt die Vorgeschichte der Ereignisse um die Pest bildet: des Kaisers Ritt in die Judenstadt, den vereitelten Anschlag Wuk von Rosenbergs, Rudolfs Liebe zu Esther und Androhung der Vertreibung der Juden aus Prag, und schließlich die Stiftung der Traumliebe durch Rabbi Löw. In den Erinnerungen des Rabbi fallen Beginn und Abschluß der erzählten Ereignisse — diese in der Situation der Erinnerung, jene in ihren Inhalten — erneut zusammen. Die Struktur des Romans wiederholt dergestalt die durch das Selbstbewußtsein Rabbi Löws vermittelte zyklische Struktur des ersten Kapitels. Im Unterschied zu diesem besteht der große Zyklus seinerseits aus einer Anzahl von Kreisen (z.B. dem des ersten Kapitels); er ist in sich differenziert.
Dem eigenwilligen Aufbau
, wie Perutz sich ausdrückt, kommt
also tatsächlich die oben zugewiesene Funktion zu, ihm eine in
sich geschlossene Gestalt zu verleihen, die sich — trotz der
dialektischen Vermittlung mit der historischen Zeit durch die beiden
Erzähler — gegen den allgemeinen Strom der Geschichte
abgrenzt. Die Linearität sowohl der historischen Zeit wie auch des
fortlaufenden Textes wird durch die Umbildung der dem Erzählen
vorausliegenden Zeitreihe in ein Bild umgestaltet, das eben wegen
seiner kompositorischen Geschlossenheit ein Bild des absolut
Vergangenen ist. Der Schillerschen Ästhetik der völlig
geschlossenen Schöpfung entsprechen bei Perutz aber keineswegs die
politischen Hoffnungen auf einen ästhetischen Staat
.32
Ganz im Gegenteil ist hier die Resignation, wie oben gezeigt wurde,
Voraussetzung für die Bildung einer geschlossenen Gestalt des
absolut Vergangenen, und umgekehrt drückt sich im geschlossenen
Bild die Trauer um die verlorene Vergangenheit aus.
Die Autonomie der einzelnen Novellen gegenüber dem Hauptstrang der
Geschichten eins, sieben und vierzehn wird durch die unterschiedlich
starken Beziehungen betont, die sie zu ihm unterhalten. Um das
Gerüst ranken sich andere, die — wie Der entwendete
Taler
oder Die Getreuen des Kaisers
— Vor- und
Nachgeschichte beibringen, einiges zu den Charakteren der Hauptpersonen
beitragen wie Der Maler Brabanzio
, Der vergessene
Alchimist
oder Das verzehrte Lichtlein
, oder auch lediglich
Lokalkolorit wie Der Branntweinkrug
oder Der Stern des
Wallenstein
geben. Ihr Eigengewicht ist von der jeweiligen Art der
Verschränkung mit dem Gerüst unabhängig. Im folgenden
sollen einige der Novellen exemplarisch je für sich interpretiert
werden, bevor abschließend noch einmal die Komposition beleuchtet
wird.
Anmerkungen
26 RI I 67. Ricoeur bezieht sich auf Aristoteles, Poetik, 1450 b 26.
27 Brief vom 15. März 1951, zit.n. Müller [1988a], S. 277.
28 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik II (Werke, Bd. 6), S. 571f.
29 Peter Szondi, Versuch über das Tragische. In: ders., Schriften I. Frankfurt 1978, S. 149-260, hier S.217.
30 In der
Übersetzung von Hölderlin, V. 1198. In: Friedrich
Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Hg.v. G.Mieth, Bd. 2,
München 31981, S. 376. — Szondi, S. 214, weist auf die
besondere, Totalität bildende Funktion dieses Ausrufs hin: was
zuletzt der Schrei des Ödipus meint: Ju! Ju! das Ganze kommt genau
heraus! faßt alle drei Orakel zusammen und bildet aus ihnen sein
Schicksal.
31 Müller [1988a], S. 275.
32 Schiller, Ästhetische Erziehung, 27. Brief (Werke, Bd. 5, S. 667).
<http://www.isc.meiji.ac.jp/~mmandel/perutz_3_3.html>