Der zyklische Aufbau: Aufhebung der Chronologie in der Struktur

Von Michael Mandelartz

Zur Übersicht

Auszug aus: Poetik und Historik. Christliche und jüdische Geschichtstheologie in den historischen Romanen von Leo Perutz.

Die Folge der Erzählungen des Romans Nachts unter der steinernen Brücke gewinnt ihre Spannung durch die sukzessive Erhellung der Ereignisse, die zur Pest in der Judenstadt und ihrem schließlichen Erlöschen führen. Die hier verwendete Erzählweise unterscheidet sich aber insofern vom analytischen Erzählen, wie es etwa den Meister des jüngsten Tages bestimmt, als die kausalen Zusammenhänge nicht explizit thematisiert werden. Die Verfolgung einer Kausalreihe erfordert das rückwärtige Abschreiten der Zeitreihe, mithin Linearität der Darstellung; indem Perutz die Rekonstruktion der Handlungsabfolge dem Leser überläßt, kann er die Chronologie der erzählten Zeit von der der Erzählzeit weitgehend abkoppeln. Auf die Lösung des Rätsels, das er dem Leser zum Abschluß der ersten Geschichte stellt, scheint der Erzähler keinen Wert zu legen. Inwiefern die drei Ereignisse: das Erlöschen der Pest, der Tod Esthers und Rudolfs Auffahren aus seinem Traum (NA 23) miteinander verknüpft sind, erfährt der Leser zwar schließlich in der siebten und vierzehnten Geschichte, er erfährt es aber im Rahmen selbständiger Novellen, die sich auf das anfangs gestellte Rätsel nicht mehr explizit zurückbeziehen.

Die Transformation der sich ins Unendliche erstreckenden Zeitreihe in den geschlossenen Erzählzusammenhang ist nun nach Paul Ricoeur überhaupt das Verfahren mimetischer Darstellung, die außerhalb der Erzählung vorliegende empirische Sachverhalte (das Erzählte) — ob sie nun frei erfunden oder historisch verbürgt sind — in einen Sinnzusammenhang bringt, dessen

Vorstellungen des Anfangs, der Mitte und des Endes nicht der Erfahrung entnommen sind: es handelt sich nicht um Züge der tatsächlichen Handlung, sondern um Wirkungen, die aus dem Aufbau des Gedichtes hervorgehen.26

Aristoteles, auf den sich Ricoeur hier beruft, bezieht das poetische Verfahren primär auf die Tragödie; daß es, wie Ricoeur darlegt, auch die epischen Gattungen bestimmt, wird in Nachts unter der steinernen Brücke exzessiv vorgeführt. Perutz selbst hat, allerdings nicht ganz zutreffend, das erzählerische Konzept des Romans in einem Brief an den Verleger Zsolnay folgendermaßen beschrieben:

Es ist, wie Sie sehen werden, ein Roman mit einem etwas eigenwilligen Aufbau. Die einzelnen Kapitel sehen aus und lesen sich wie selbständige Erzählungen, und es dauert einige Zeit, ehe man darauf kommt, daß man Kapitel einer eigentlich ziemlich straffen Romanhandlung vor sich hat, die aber nicht chronologisch erzählt wird. So ist der Beginn der Handlung erst im letzten, dem vierzehnten Kapitel zu finden, während das erste seinen Stoff aus der Mitte der Handlung holt. Und doch erscheint mir diese Anordnung nicht willkürlich, sondern als die einzig denkbare und mögliche.27

Mit der Betonung der Notwendigkeit eben dieser Anordnung macht Perutz auf den Doppelcharakter der Novellen aufmerksam, die einerseits jeweils ein selbstgenügsames Ganzes bilden, andererseits aber funktional auf die Gesamthandlung ausgerichtet sind. Eine willkürliche Änderung der Reihenfolge würde in der Tat die notwendige Folge des Erzählens (nicht des Erzählten): Rätsel (erstes Kapitel) und sukzessive Auflösung (besonders 7. und 14. Kapitel) zerstören. Trotz des zyklischen Charakters ergibt sich wiederum — wie in der Dritten Kugel — eine Dialektik zwischen Offenheit und Geschlossenheit, die sich mit der von Hegel für seine Logik angegebene Struktur vergleichen läßt:

Vermöge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft [der Logik] als ein in sich geschlungener Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt; dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion-in-sich, die, indem sie in den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist.28

Der Hegelsche Terminus der Reflexion-in-sich ist durchaus wörtlich auf die Romanstruktur übertragbar. Die Geschlossenheit der ersten Novelle ergibt sich beispielsweise daraus, daß das Wissen Rabbi Löws um die Ursache der Pest mit seinem Wissen um sich selbst zusammenfällt. Die Struktur des Wissens um die äußeren Dinge (die Pest) deckt sich — im Sinne der Delphischen Tempelinschrift Gnothi seauton — mit dem Selbstbewußtsein des Protagonisten. Erkenntnis ist also primär nicht auf linear aufeinander folgende Ursachen gerichtet, sondern rückbezüglich, und das heißt: zyklisch angelegt, wie das von Rabbi Löw ins Leben zurückgerufene tote Blümchen bezeugt:

Wer jene Sünde begangen hat, sagte es, um derentwillen uns Gott zu sich rief, das weiß ich nicht und auch der Diener des Herrn weiß es nicht, der über uns gesetzt ist. Das weiß nächst Gott nur einer und der bist du.
Da kam ein Stöhnen aus der Brust des hohen Rabbi.(NA 22)

Ähnlich dem König Ödipus der Sophokleïschen Tragödie entdeckt Rabbi Löw, nachdem er zunächst über die unbekannte Ehebrecherin — wie Ödipus über Kreon — den Bann ausgesprochen hatte, sich selbst als den Unschuldig-Schuldigen: Unschuldig, sofern er die Traumliebe zwischen Esther und Rudolf stiftete, um die Prager Juden vor der Vertreibung zu schützen, schuldig, sofern er gerade durch diesen Rettungsversuch den Zorn Gottes über die unschuldigen Kinder (NA 11) gebracht hat:

Der Retter Thebens erweist sich zugleich als sein Verderber. Er ist es nicht auch, sondern gerade als Retter: denn die Pest ist die Strafe der Götter für den Lohn, den er für seine rettende Tat empfangen hat, die blutschänderische Ehe mit Königin Jokaste.29

Die offensichtliche Vorbildfunktion des Sophokleïschen Ödipus hat jedoch auch ihre Grenze. Mit der Selbsterkenntnis des König Ödipus schließt sich das antike Drama zur Totalität: Ju! Ju! das Ganze kommt genau heraus!30 stößt Ödipus zum Abschluß seiner Analyse aus. Des Rabbi Stöhnen enthält zwar ebenso das Ganze, weil er nun um seine Schuld — wie Ödipus — weiß, und die Novelle Die Pest in der Judenstadt schließt sich damit zum Kreis wie das antike Drama; von den Umständen, unter denen der Rabbi schuldig wurde, erfährt der Leser aber noch nichts. So bildet das Stöhnen als Ausdruck von Löws schmerzhafter Selbsterkenntnis, indem es das Ganze des Romans proleptisch umschließt, zugleich eine Leerstelle, die erst noch ausgefüllt werden muß. In dem das Kapitel abschließenden Parallelismus deutet sich eine erste Differenzierung der zyklischen Strukur an. Seine heterogenen Elemente: Erlöschen der Pest, Tod Esthers und Erwachen Rudolfs werden auf die eine Zeitbestimmung: In dieser Nacht (NA 23) bezogen und bilden gewissermaßen eine 'trinitarische' Struktur, die zwar ein Ganzes, aber eben als komplexes Rätsel31 bildet:

In dieser Nacht erlosch die Pest in den Gassen der Judenstadt.
In dieser Nacht starb in ihrem Haus auf dem Dreibrunnenplatz die schöne Esther, die Frau des Juden Meisl.
In dieser Nacht fuhr auf seiner Burg zu Prag der Kaiser des Römischen Reiches, Rudolf II., mit einem Schrei aus seinem Traum.

Ebenso wie das erste Kapitel läuft auch der gesamte Roman in sich selbst zurück. Eine Rekonstruktion der zentralen Handlung zeigt, daß Perutz im Brief an den Verleger das Verhältnis von erzählter und Erzählzeit etwas lax darstellt. Das mittlere, siebte Kapitel enthält tatsächlich mit der Liebesnacht Rudolfs und Esthers auch die chronologische Mitte der Handlung; das erste Kapitel erzählt die faktische Beendigung der Pest durch Löws Ausgrabung des Rosmarins und den Tod Esthers, ohne den inneren Zusammenhang dieser Ereignisse aufzuklären; das — abgesehen vom Epilog — letzte Kapitel bildet mit dem Gespräch zwischen Löw und dem Maggid zwar chronologisch den Abschluß, trägt aber zur Handlung nichts mehr bei; denn die Handlung besteht hier aus bloßer Reflexion, deren Inhalt die Vorgeschichte der Ereignisse um die Pest bildet: des Kaisers Ritt in die Judenstadt, den vereitelten Anschlag Wuk von Rosenbergs, Rudolfs Liebe zu Esther und Androhung der Vertreibung der Juden aus Prag, und schließlich die Stiftung der Traumliebe durch Rabbi Löw. In den Erinnerungen des Rabbi fallen Beginn und Abschluß der erzählten Ereignisse — diese in der Situation der Erinnerung, jene in ihren Inhalten — erneut zusammen. Die Struktur des Romans wiederholt dergestalt die durch das Selbstbewußtsein Rabbi Löws vermittelte zyklische Struktur des ersten Kapitels. Im Unterschied zu diesem besteht der große Zyklus seinerseits aus einer Anzahl von Kreisen (z.B. dem des ersten Kapitels); er ist in sich differenziert.

Dem eigenwilligen Aufbau, wie Perutz sich ausdrückt, kommt also tatsächlich die oben zugewiesene Funktion zu, ihm eine in sich geschlossene Gestalt zu verleihen, die sich — trotz der dialektischen Vermittlung mit der historischen Zeit durch die beiden Erzähler — gegen den allgemeinen Strom der Geschichte abgrenzt. Die Linearität sowohl der historischen Zeit wie auch des fortlaufenden Textes wird durch die Umbildung der dem Erzählen vorausliegenden Zeitreihe in ein Bild umgestaltet, das eben wegen seiner kompositorischen Geschlossenheit ein Bild des absolut Vergangenen ist. Der Schillerschen Ästhetik der völlig geschlossenen Schöpfung entsprechen bei Perutz aber keineswegs die politischen Hoffnungen auf einen ästhetischen Staat.32 Ganz im Gegenteil ist hier die Resignation, wie oben gezeigt wurde, Voraussetzung für die Bildung einer geschlossenen Gestalt des absolut Vergangenen, und umgekehrt drückt sich im geschlossenen Bild die Trauer um die verlorene Vergangenheit aus.

Die Autonomie der einzelnen Novellen gegenüber dem Hauptstrang der Geschichten eins, sieben und vierzehn wird durch die unterschiedlich starken Beziehungen betont, die sie zu ihm unterhalten. Um das Gerüst ranken sich andere, die — wie Der entwendete Taler oder Die Getreuen des Kaisers — Vor- und Nachgeschichte beibringen, einiges zu den Charakteren der Hauptpersonen beitragen wie Der Maler Brabanzio, Der vergessene Alchimist oder Das verzehrte Lichtlein, oder auch lediglich Lokalkolorit wie Der Branntweinkrug oder Der Stern des Wallenstein geben. Ihr Eigengewicht ist von der jeweiligen Art der Verschränkung mit dem Gerüst unabhängig. Im folgenden sollen einige der Novellen exemplarisch je für sich interpretiert werden, bevor abschließend noch einmal die Komposition beleuchtet wird.

 

Anmerkungen

26 RI I 67. Ricoeur bezieht sich auf Aristoteles, Poetik, 1450 b 26.

27 Brief vom 15. März 1951, zit.n. Müller [1988a], S. 277.

28 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik II (Werke, Bd. 6), S. 571f.

29 Peter Szondi, Versuch über das Tragische. In: ders., Schriften I. Frankfurt 1978, S. 149-260, hier S.217.

30 In der Übersetzung von Hölderlin, V. 1198. In: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Hg.v. G.Mieth, Bd. 2, München 31981, S. 376. — Szondi, S. 214, weist auf die besondere, Totalität bildende Funktion dieses Ausrufs hin: was zuletzt der Schrei des Ödipus meint: Ju! Ju! das Ganze kommt genau heraus! faßt alle drei Orakel zusammen und bildet aus ihnen sein Schicksal.

31 Müller [1988a], S. 275.

32 Schiller, Ästhetische Erziehung, 27. Brief (Werke, Bd. 5, S. 667).

<http://www.isc.meiji.ac.jp/~mmandel/perutz_3_3.html>